Die Frau, die allen davonrannte by Snyder Carrie

Die Frau, die allen davonrannte by Snyder Carrie

Autor:Snyder, Carrie [Snyder, Carrie]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: btb
veröffentlicht: 2016-05-25T12:42:43+00:00


12

Heimkehr

Stimmen wehen um mich herum durch die Luft. So ist das mit der Erinnerung: Ich kann ein Detail ganz genau vor mir sehen und doch nicht erkennen, weil mir das Bewusstsein für die Umgebung verlorengeht, in die das Detail eingebettet ist.

»Weißt du noch, wie wir versucht haben, aus diesen Trümmern ein Fort zu bauen?« Der junge Mann stochert im Schutt herum. »Wie ich auf dich aufpassen sollte und du dir die Hand an einem Nagel aufgerissen hast und es geblutet hat und ich mein T-Shirt drumgewickelt habe? Ich habe dir zwei Dollar gegeben, damit du Mom nichts sagst, und das T-Shirt habe ich dann weggeworfen, weil ich nicht wusste, wie ich das Blut rauskriegen sollte. Als ob es von einem Verbrechen wäre. Wir haben den ganzen Sommer an diesem Fort gebaut. Ich wette, es ist immer noch da.«

»Zwei Dollar!« Das Mädchen lacht. »Daran erinnere ich mich natürlich. Nein, nicht wirklich.«

»Wir waren ständig hier drüben. Auf Schatzsuche.«

»Und? Haben wir irgendwelche Schätze gefunden?«

Rascheln. »Ich glaube, das Fort war hier.«

»Was denkst du, woran sie sich noch erinnert – Mrs. Smart?«

»Manchmal ist sie ja klar im Kopf.«

»Tut sie dir nicht leid, Max?«

»Warum sollte sie?«

»Sie war diese tolle Läuferin, Wahnsinn – und jetzt? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist.«

Langsam öffne ich mich den beiden, lasse es alles durch meine Haut, ihr Mitleid und ihre dringenden Wünsche, seinen Kamerablick, ihrer beider Jugend.

Ich war mit meinem Körper immer vertraut genug, um seine Grenzen anzuerkennen, und dieser Rollstuhl ist nur die jüngste Stufe einer langen Abwärtsentwicklung. Man läuft nie wieder, wie man als Kind gelaufen ist: mühelos. Später erreicht man einen Punkt, an dem man so schnell ist, wie man je sein wird – den Gipfel, den man nicht als solchen erkennt. Ich erinnere mich, beim Laufen oder wenn ich wusste, dass ein großer Schmerz auf mich zukommt, die Worte »nicht kaputt zu kriegen« vor mich hingeflüstert zu haben, aber ich habe es nur deshalb wie ein Mantra wiederholt, weil ich wusste, ich war nicht nicht kaputt zu kriegen. Ich bin nie deshalb gelaufen, weil ich stark war, so gesehen. Nicht Stärke hat mich zur Läuferin gemacht, sondern der Wunsch, stark zu sein.

Ich bin gelaufen, um meinen Mut zu stärken. Tue es immer noch, wenn auch nur im Geist.

Warum läufst du?

»Hat sie was gesagt? Mrs. Smart?«

»Warum läufst du?« Ich artikuliere jedes Wort, als stünde es allein.

»Sie redet mir dir, Kaley.«

Das Sonnenlicht ist besonders grell und kalt.

»Warum ich laufe?«

»Sehr gute Frage, Mrs. Smart!« Der junge Mann und seine Kamera nicken. »Warum läufst du, Kaley?«

Dem Mädchen hat es die Sprache verschlagen.

»Ich weiß nicht«, sagt sie langsam.

»Versuchst du, vor etwas wegzulaufen?«, fragt ihr Bruder mit echter Neugier in der Stimme.

»Ich glaube nicht.« Noch langsamer.

»Dann läufst du also auf irgendetwas zu?«

»Na ja, klar, ich habe Ziele. Ich will den kanadischen Frauen-Marathonrekord brechen. Ich will es ins Olympiateam schaffen. Klar. Aber –« Sie verstummt. Sieht in die Kamera, sieht dann mich an. »Ich glaube, ich würde auch laufen, wenn ich wüsste, dass ich nie wieder einen Lauf gewinne. Es ist verrückt.



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